Eine schmale Passage

Der Regen wäscht die Wunde aus
Die du mit deinem Biss geschlagen hast
Doch er heilt sie nicht
Auch die Zeit nicht
Auch eine neue Liebe nicht
Und auch kein altes Lied

Wer hat dir erlaubt mich so zu küssen?

1

Spürst du das?
– Ich nicht
Wie die laue Luft die Haut im Vorüberwehen streichelt?
Ein Händedruck erst, dann locker, leicht
Wie zufällig
Liegen die Fingerkuppen am Handgelenk an
Ich zeige auf Täler und Berge
Auf Bäche und auf Flüsse
Auf meandernde Schluchten deute ich hin
Es ist nur eine schmale Passage
Sehr schmal

Hörst du das?
– Ich nicht
Die Quelle gluckst und spritzt und sprudelt dann
Mit der Nasenspitze küsse ich
Dein verschwitztes Dekolleté
An der Gabelung des Weges steht
Auf einem nagelneuen Schild
Nur Kleingedrucktes
Die Augen, betäubt

Siehst du das?
– Ich nicht
Ich schreibe im Stehen
Im Weggehen
Und beim Falten des Briefes wird
Mein Körper
Dein Körper
Von der scharfen Kante des Bogens zerteilt
Ich sehe, wie wir da und dort und drüber stehen
Wie wir am Stock gehen
Und dann immer wieder neu
Dieselben Bilder missverstehen

Ah!
Riechst du das?
– Ich nicht
Der Wind trägt den Müll von gestern heran
Und die Scherben meines Spiegels
Meines großen, alten Spiegels
Aus meinem großen, alten Traum
Sie ritzen mich
Sie spicken und zerschnitzen mich
Sie schneiden
Stockend, wie
Mit stumpfen Messern
Brutal trennen sie mein Sehnen von meiner Macht
Allen Sinnen beraubt

Sag,
Fühlst du das?
– Ich nicht
– Ich nicht
Von den Rändern der Worte reitet Gilb herein
Wie eine Wanderdüne oder
Wie Wassermassen
Ein letztes Mal nun
Kannst du dich
An der Spitze einer Zypresse
Von deinem hohen Ross zu mir herunterlassen
Ein Händedruck erst
Dann locker, leicht
Wie zufällig
Liegen die Fingerkuppen am Handgelenk an
Ich zeige auf Täler und Berge
Auf Bäche und Flüsse
Auf meandernde Schluchten deute ich hin
Es ist nur eine schmale
Sehr schmale Passage
Zum Puls der Zeit

Spürst du das?
Ich nicht
Wie die laue Luft die Haut im Vorüberwehen streichelt?
Als wir aneinander vorbeigehen
Wache ich auf

-2

Als ich aufwache ist es stockfinster und die Dunkelheit wiegt schwer auf meinen Lidern, meiner Haut. Nur ganz langsam kann ich meine Arme, Hände, Finger durch die Luft bewegen, wie man mit einem Löffel Sirup umrührt. In einer Ferne, die ich nicht näher beschreiben kann, sind klatschende und knackende Geräusche zu hören, Gelächter und Stimmengemurmel, wie von einer Gruppe, die an einem Lagerfeuer zusammensitzt und sich wohlfühlt. Mit einem leisen Stöhnen setze ich mich auf, was mir ungeheuer schwerfällt, und verliere dabei dieses feine, akustische Band zu der vermuteten Außenwelt, da ich nur noch meinen Atem und das behäbig glucksende Rühren meiner Glieder im sirupzähen Raum wahrnehmen kann. Vorsichtig ertaste ich mir meine unmittelbare Umgebung: Ich erkenne das Bett, die Wäsche, die Wolldecke, der Bademantel liegt am Fußende, und rechts von mir finde ich das Notizbuch, den Kugelschreiber und meine Brille. Ich höre auf mich zu bewegen. Die Lebenszeichen anderer Menschen von irgendwoher sind wieder deutlicher zu hören. Nicht, dass mich das in irgendeiner Weise beeindruckt. Vielmehr wird mir klar, dass mich auch die augenblickliche Situation in der ich mich befinde, und die ich nicht verstehe, vollkommen kalt lässt. Ich meine, es ist, wie es ist, und nichts daran beunruhigt mich. Ich bin allein, blind, taub, normal.

Ich folge meinem allmorgendlichen Ritual: stehe auf, koche Kaffee, trinke eine Tasse im Bett, und anschließend widme ich mich meinen Kämpfen, boxend und tretend. Wie immer. Wie an allen anderen Tagen auch, an denen die Sonne noch aufging und die Luft im Zimmer frischer wurde, wenn ich das Fenster öffnete. Jetzt lebte ich eben im Dunkeln, war behäbiger, müder. Normal. Meine einzige Frage ist, wieso sitzen dort aber Leute an einem Lagerfeuer? Warum klingt ihr Klatschen so anders, so weich? Und warum knistert und knackt es, als ob über der geselligen Runde ein dunkelblauer Himmel voller Sterne hängt, Grillen im Unterholz zirpen und die Steine, der Boden, der Sand auf dem sie sitzen, noch warm ist von einem langen, heißen Sonnentag am See?

-3

Amphibienliebe

Am Donnerstag ist Frauentag in den Badewelten, und so fette ich meine Schwimmhäute mit solch besonderer Sorgfalt ein, dass sie glänzen, und nähe mir mein Rettungsschwimmerabzeichen gut sichtbar an den Badeanzug. Ich umhülle mich mit den feinsten Netzen, in die ich Seepferdchen hänge, und mit zart grünem, fest violettem, mit korallenfarbenem Tang schmücke ich mich. Um jeden Preis will ich, dass du mich siehst und mich erkennst – Amphibienliebe

Kaleidoskope habe ich für dich gebastelt, in denen alle Meere, alle Seen, Flüsse, Bäche und jedes Rinnsal in kleinsten Tröpfchen und größten Wasserblasen kaskadenartig ineinander und auseinanderfallen. Sie fließen ölig, dann wieder sprudeln sie, dass die Gischt sich türmt und sich zu imposanten Säulen aus Schaum himmelwärts dreht und drechselt wie getrocknete Lufagurken, an denen wir unsere Schuppenkleider reiben können, wenn sie jucken – Amphibienliebe

An Land sind wir nichts, nur graue, spröde Vergänglichkeit. Unter Wasser aber schillern wir. Die Glocke läutet auf der Bohrinsel und kündet von unserem nächsten heftigen pechrabenschwarzen Coup – Amphibienliebe

Es brennt
Die Lunte ist gelegt
Ergib Dich!
Ich ergebe mich
Denn ich will kein Seestern mehr sein
Der nichts und niemanden braucht
Allein auf dem Meeresgrund
Und sei ich auch noch so tief

-4

Ich laufe auf nackten Füssen die Treppe hinunter. Sonnensprenkel auf den Dielen wechseln sich ab mit dunklen Astflecken, sie tänzeln umeinander und meine kleinen, feuchten Fußabdrücke dazwischen weichen ihnen aus, sie verschwinden schnell. Ich husche wie ein Tier durch den halbdunklen Flur.
In einer Nische, in die kein staubiger Lichtstrahl gelangt, setze ich mich auf einen 1000-jährigen Stuhl. Still, mit gedrosseltem Atem, nehme ich Witterung auf wie ein Reh, ob vielleicht die Vergangenheit durch die Rückenlehne in mein Knochenmark dringt. Mir ein Korsett aus Haifischrippen um die Taille legt. Ob mir mein modernes Menschenherz nun hochrutscht in die Kehle, wo es pocht und pocht und Ströme dunklen Blutes in mein Hirn pumpt, dass ich denken kann wie eine Bestie, dass ich meine Zähne fletsche? Erinnere dich an heute, rufe ich mir zu und sage auf, was morgen schon vorbei ist: “Tief im Herzen meines Hirns gibt es einen Hebel, tief im Herzen meines Hirns gibt es einen Schalter.” Umgelegt habe ich dich, denn du hast mir nie gefallen – Modellbauten stürzen ein. Sieh doch nur! Rings um die Stuckrosette hat die billige Tapete begonnen sich von der Decke zu lösen, beschlossen, nicht mehr nur zu kleben, sondern ein eigenes Leben will sie führen: In Streifen herabhängen, lang und länger werden, herabfallen, im Bauschutt liegen und vergammeln und schließlich mit einer Wagenladung Dreck auf einer großen Kippe abgeladen werden. Bald wird sie unter gesätem Rasen liegen und mit Wühlmäusen und Würmern Bekanntschaft machen.

-5

Am Morgen danach, ein Abschiednehmen mit Gesang und Tränen
Mit Zärtlichkeiten, die züchtiger sind als Nonnenhüsteln in der Sakristei
Ich hatte mir angewöhnt, alles gehen zu lassen, das lächelnd leidet
Ich hatte mir vorgenommen, nichts gehen zu lassen, das flucht und kneift und wiederkehrt und umkehrt
Das sich und mir Unzumutbares zumutet, ahnungslos, doch voller Neugier, wohin der Wahnsinn die Liebende treibt
Ob Misthaufen aufgetürmt werden im Hinterhof der Milchmädchenwirtschaft
Von denen herab ein allwissender Gockel das IST und TUN und WERDEN verkündet
Oder ob
Mit ein paar Tropfen Nitroglyzerin
Ein beschleunigtes Erkennen herbeigebombt wird – wir haben ja nicht ewig Zeit!
Danach ist Stille umso schöner
Ist das stille Wasser umso klarer
Ja!
Wie tief muss ich gehen in mir
Welche Gewinde muss ich aufschrauben
Wieviele Schlingen lösen
Knotenpunkte aufdröseln
Dunklen Stellen beleuchten
Mit den Strahlen der Erkenntnis
Wie schön ich doch bin
Wenn ich einfach nur bin

– Sie rutscht aus dem unscharfen Blick des Selbstmitleids

Wie tief muss ich bohren um diese uralte Sprache aus meinen Worten heraus zu pinseln?
Ach, du hast geglaubt, es sei ein Vorschlaghammer gewesen?
Höchstens gekratzt habe ich einmal
Mit einem Federkiel
Aber meistens benutze ich die ganz weichen Pinsel
Aus Kinderhaar

– Über die kalte Schulter hinweg kann doch jeder zischeln

Den Faden aufgenommen
Den Faden verloren
Die Hoffnung liegt im Auge des Betrachters
Die Betrachtete ist ein göttliches Kind
Wenn sie diesen Blicken standhät

-6

Rings um den Wochenmarkt, der rechts von der Bahntrasse liegt die unsere Stadt zerteilt, hatte man Katapulte aufgebaut, solche aus dem Mittelalter. Doch nicht mit Kohlköpfen wurde auf uns geschossen – das Volk hungerte
Sondern Augen hatte man auf uns geworfen
Die meisten prallten an uns ab und zerplatzten auf dem Asphalt
Zwei aber stierten mit geweiteten Pupillen von unten zu uns herauf
und befahlen uns eine Reise anzutreten
Durch sie hindurch.
Wir folgten: Kamera läuft! – Ruhe! – Klappe! – action!,
Doch der Silberblick trennte unsere Wege
Und nach 12 Kilometern hatte ich deinen Namen vergessen
hattest du meinen Namen vergessen
Nun wird gemunkelt
Du seist Vampiren zum Opfer gefallen
Lebtest in einem Nebelschwaden
Sehr bleich und sehr durstig, aber frei
Ich arbeite inzwischen als Kammerjägerin in einer Bettenburg
Auf der linken Seite der Bahntrasse die unsere Stadt zerteilt
Und ich warte und warte und warte und warte
Auf deinen Biss

-7

Heute morgen fragte ich mich, ob es nicht zu früh ist mit dem Erinnern anzufangen
Gleich darauf weiß ich schon, dass das Erinnern mit dem ersten Atemzug beginnt
Und mit der Fähigkeit zu sprechen, kommen die Bilder
Die schon andere sind als jene
Die man zuvor gesehen hat
Als man noch keine Worte hatte
Noch kein Gedächtnis zu haben schien
Keinen Vergleich
Da sind die Fotos auf denen man nichts und niemanden erkennt
Und dennoch weiß man
Was und wen man darauf sieht
Die Landschaft, der Himmel, die Gebäude, die Strassen
Die Gesichter, die Stimmung, leise oder laut
Fern, weit, nah, eng, groß oder gedrungen
fremd oder vertraut
Ja, wir waren auch mal am Strand
Ja, es gab da auch mal Ferkel am Spieß
Bier floss in Strömen
Der Rhein schien träge
Die Mücken tanzten
Es war Samstag
Es war
Nacht
Die Band hat die alten Lieder gespielt
Und M hat geweint, weil sie betrunken war
Der Geruch von saurem Wein und Schmerztabletten liegt über dem Bild
P stiert, F lacht, das Schweinefett tropft und zischt in der Glut
Während hinter den Büschen
Dort am Bildrand
D kotzt
Und sich einsam und verlassen fühlt

Schemen, Schatten, Schall und Rauch
Es wird niemals leichter, es kommt nie was von selbst
Aber es soll leichter werden
An sich selbst zu glauben
Später irgendwann
Man sieht es jetzt noch nicht auf diesem Bild

© Katharina Franck_Textkomposition_2017 (alle Rechte vorbehalten!)

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